Gemäß des neuen Artikels 590-sexiesdes Strafgesetzbuchesist der Arzt für Tötungen oder fahrlässige Körperverletzungen, die bei der Ausübung des Berufsstandes im Gesundheitsbereich begangen wurden, nicht strafbar, wenn das Ereignis „aufgrund von Untüchtigkeit“ eingetreten ist und den „Empfehlungen der Richtlinien, wie sie nach dem Gesetz definiert und veröffentlicht wurden, oder, in Ermangelung solcher Empfehlungen, guten klinischen und sozialen Praktiken“ entsprochen wurde, vorausgesetzt, dass „die Empfehlungen dieser Richtlinien den Besonderheiten des jeweiligen Falles angemessen sind“.
Mit dieser Rechtsvorschrift hat der Gesetzgeber in unserem Strafrecht das Vorhandensein einer besonderen Ausrede für die Ärzteschaftbestätigt und gleichzeitig Art. 3 Absatz 1 des sogenannten Balduzzi-Dekrets (Gesetzesdekret Nr. 158 vom 13. September 2012, umgewandelt durch Gesetz Nr. 189 vom 8. November 2012) aufgehoben, der bereits damals die Straffreiheit einer den Gesundheitsberuf ausübenden Person vorsah, die „bei der Ausübung ihrer Tätigkeit von der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannte Richtlinien und bewährte Praktiken befolgt“, ausgenommen Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit.
Der Zweifel: Wo liegen die Anwendungsgrenzen zwischen dem Gesetz „Gelli-Bianco“ und dem „Balduzzi-Dekret“?
Die beiden Rechtsvorschriften haben ein analoges Verhältnis, da sie jedoch unterschiedliche Terminologien verwenden, implizieren sie eine unterschiedliche Erweiterung der medizinischen Ausrede, wodurch die Lösung einiger Auslegungsfragen, vor allem intertemporaler Art, erforderlich wird. Es ist allgemein bekannt, dass eine aufgehobene Strafrechtsnorm nicht einfach aus dem Regelwerk verschwindet, sondern, wenn sie vorteilhafter als die ergangene Rechtsnorm ist, nach wie vor sämtliche unter ihrer Geltung aufgetretenen Situationen regelt; andererseits sollte die ergangene Rechtsnorm, die möglicherweise einen vorteilhafteren Inhalt als die aufgehobene Rechtsnorm hatte, auch rückwirkend angewendet werden.
In einem solchen Zustand der Unsicherheit musste das neue Paradigma der medizinischen Haftung durch einen analytischen Vergleich zwischen den beidenim Zeitablauf aufeinander folgenden Rechtsgrundlagenrekonstruiert werden, damit für den Arzt stets das für die Praxis vorteilhaftere Gesetz angewendet werden konnte. Letzteres ist unter Berücksichtigung der Tatsache durchzuführen, dass Art. 590-sexiesc.p. in Bezug auf das Gesetz Balduzzi zwei wichtige Unterschiedeaufweist:
- das Vorliegen der Einschränkung der „Untüchtigkeit“ als einzig möglicher Fall, mit dem der Arzt entschuldigt werden könnte;
das Verschwinden jedes Hinweises auf den Schweregrad des Verschuldens, mit dem daraus resultierenden Zweifel, ob sich auch ein Arzt, der einen Fehler aufgrund grober Fahrlässigkeit begangen hat, heute als entschuldigt ansehen kann oder nicht.
Die Antwort der Vereinigten Sektionen
In dieser Angelegenheit wurde unverzüglich um die Einschaltung des Kassationsgerichts gebeten, das mit dem Urteil Nr. 8770 aus 2018 an die Vereinigten Sektionen eine erste verbindliche Auslegung des Art. 590-sexiesc.p. und seiner Anwendungsgrenzen vorgenommen hat.
Die Vereinigten Sektionen bestätigten zunächst, dass die neue medizinische Ausrede – unter Berufung auf den klaren Wortlaut von Artikel 590-sexiesc.p. – in keinem Fall von Fahrlässigkeit oder Unvorsichtigkeit, auch wenn sie nur geringfügig ist, herangezogen werden kann. Beschränkt auf vor dem Inkrafttreten der Reform, d.h. vor dem 1. April 2017, begangene Handlungen, muss daher das vorteilhaftere Balduzzi-Gesetz, nach dem die Ausrede möglich war, auf diese Fälle Anwendung finden.
Was das Verschwinden jeglichen Verweises auf den Schweregrad des Verschuldens in Art. 590-sexiesc.p. betrifft, so haben die Vereinigten Sektionen es stattdessen für notwendig erachtet, eine verfassungsorientierte Auslegung der Rechtsnorm vorzunehmen: In diesem Sinne stellte der Gerichtshof fest, dass der Begriff „geringfügiges Verschulden“, auch wenn nicht ausdrücklich erwähnt, als Anwendungskriterium der im neuen Rechtsverständnis impliziten Ausrede anzusehen ist. Daher ist die mögliche Anwendung der Ausrede in allen Fällen, in denen ein Fall von schwerwiegendem Fehlverhalten vorliegt, auszuschließen.
Fazit: Die strafrechtliche Haftung des Arztes heute
Daraus folgt, dass nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs eine den Gesundheitsberuf ausübende Person für Tod oder Körperverletzunginfolge der Ausübung medizinischer und chirurgischer Tätigkeitenhaftet,wenn:
- das Ereignis aufgrund von Fahrlässigkeit, auch geringfügiger, oder Unvorsichtigkeit eingetreten ist;
- das Ereignis auf Untüchtigkeit, auch leichte, zurückzuführen ist, wenn der konkrete Fall nicht durch die Empfehlungen der Richtlinien oder durch gute klinische und soziale Praktiken geregelt ist;
- das Ereignis auf Untüchtigkeit, auch leichte, bei der Ermittlung und Auswahl von Richtlinien oder guten Praktiken zurückzuführen ist, die nicht der Besonderheit des Falles angemessen waren;
- das Ereignis als Folge eines grob fahrlässigen Handelns bei der Umsetzung von Empfehlungen, Richtlinien oder angemessenen guten klinischen und sozialen Praktiken eingetreten ist, wobei der Grad des zu bewältigenden Risikos und die besonderen technischen Schwierigkeiten der medizinischen Handlung berücksichtigt werden.
Nach einer abschließenden Lektüre dieses Regelsystems gelangt man zu dem Schluss, dass es mit der Gelli-Bianco-Reform nicht vollständig gelungen ist, den Ärzten eine klare und geeignete Rechtsgrundlage zur Vermeidung des Phänomens der Defensivmedizin zu bieten: In einigen Aspekten, insbesondere in der neu eingeführten Unterscheidung zwischen Fällen von Untüchtigkeit und solchen von Unvorsichtigkeit oder Fahrlässigkeit, scheint es in der Tat in der Anwendung Unklarheiten zu geben, die der Rechtsprechung genügend Spielraum geben werden.